Der Exerzierplatz

Von R. v. Rawitz, Berlin.
in: „Der Deutsche correspondent„ vom 14.04.1912
in: „Mährisches Tagblatt„ vom 14.02.1903


Hell und freundlich lacht die Julisonne über der märkischen Flur. Sie spiegelt sich in den Fensterscheiben der guten Stadt Edelberg, in dem Flüßchen, das sich zwischen Kornfeldern und Wiesen nach dem Forst hinzieht, und in de blanken Knöpfen der Artilleristen, die auf ihrem Exerzierplatz Felddienst üben, Julitag — das sind angenehme Tage für den Soldaten: die Besichtigungen durch alle hohen Vorgesetzten sind vorüber, der Dienst wird milder gehandhäbt, die Offiziere gehen auf Urlaub, und die Mannschaften freuen sich auf das Manöver und die sich daran schließende Entlassung zur Reserve. So herrscht denn auch in der Batterie, die dort oben zwischen Wald und Feld exerziert, eine angenehme Stimmung, und der gestrenge Hauptmann, Herr von Reizbach, nickt sogar einige Male befriedigt mit dem Kopf.

„Nun wollen wir noch eine Aufgabe lösen!" sagte er zu seinen Offizieren und Unteroffizieren. „Wir nehmen also an, der Gegner zieht über Rosenhagen ab, und die Batterie erhält den Befehl, ihn kräftig unter Feuer zu nehmen, Dazu gehen wir in Front vor bis auf dic Geländewelle da drüben. Bitt' mir aber aus, daß die Abstande nicht verloren gehen! — Batterie — halt!"

Die Geschütze wurden aufgeprotzt, die Reiter flogen auf die Pferde, die Kanoniere auf die Protzen und Achssitze, und zwei Minuten später jagte die Batterie vorwärts nach der bezeichneten Position. Hier angelangt, eröffnen die Mannen des Herrn von Reizbach ein „formidables Feuer”, das im Ernstfälle die Umgegend meilenweit mit seinem Getöse erschüttert hätte; unter den friedfertigen Umständen des Exerzierplatzes beschränkte sich der Geschützdonner jedoch auf die Berserkerstimmc des Hauptmanns und die Organe seiner drei Zugführer, von denen einer regelmäßig in die Fistelstimme überschlug, wenn er „Feuer durch” rief. Auch in dieser Stellung ging alles glatt in der Batterie von statten, aber ein unmilitärischer Gegenstand begann den Hauptmann zu ärgern, ein friedlicher Landmann mit Jagdmütze und Knotenstock, der zwanzig Schritte vor den Mündungen der Kanonen stand und sich weder durch „Schrapnels” noch „Granaten” aus seiner Ruhe bringen ließ.

„Wachtmeister!”

„Herr Hauptmann?”

„Reiten Sie mal zu dem Kerl hin und jagen Sic ihn weg!”

„Zu Befehl, Herr Hauptmann!” —

Nach zwei Minuten war der Wachtmeister wieder zurück.

„Der Kerl will nicht weggehen, Herr Hauptmann!”

„Na. da soll ihn der Deibel!” entgegnete Reizbach und galoppierte selbst zu dem Mann hinüber.

„Herr, was machen Sie hier auf dem königlichen Exerzierplatz?” donnerte er, indem er seinen Gaul hart vor dem Fremden parierte. „Ich muß Sie ersuchen, den Platz zu verlassen!”

„Sic befinden sich in einem Irrtum, mein Herr,” antwortete der Angeredete. „Ihre Batterie befindet sich auf fremden Grund und Boden. Die Höhe, auf der Sie mit Ihrer Mannschaft stehen. gehört zu Gut Rosenhagen, und ich bin der Inspektor des Gutes!”

„Sie sind der Inspektor — so! Wie lange denn, wenn man fragen darf?”

„Ich bin seit Weihnachten hier!”

„Und ich, Herr Inspektor, stehe seit fünfzehn Jahren in Edelberg in Garnison. Sie werden mir wohl glauben, wenn ich Ihnen sage, daß ich auf dieser Stelle seit anno 1887 wohl an die tausend Mal gestanden habe!”

„Tut mir sehr leid, Herr — Herr — —”

„Hauptmann von Reizbach!”

„Mein Name ist Berger. Tut mir sehr leid, Herr Hauptmann, aber die Gutsgrenze läuft hundert Schritte weiter südlich in Verlängerung der Schonung dort! Das gnädige Fräulein hat streng befohlen, diese Grenze aufrecht zu erhalten!”

Hauptmann von Reizbach war an Widerspruch nicht gewöhnt; er wurde dunkelrot und hätte den Mann am liebsten über den Haufen geritten, aber er bezwang sein jähzorniges Temperament, warf den Gaul herum und befahl den Abmarsch.

„Der Kerl ist verrückt” sagte er zu seinem Oberleutnant, „aber ich werde mich mit den Leuten doch nicht streiten! Wir werden uns, vom Regiment aus, direkt in Rosenhagen beschweren und eventuell an den Landrat wenden. Das fehlte noch, daß mir Zivilisten vor meinen Kanonen 'rumwimmcln und bestimmen, wo die Grenze liegt!” — — — —

Eine Stunde später saßen die Herreu im Kasino und frühstückten. Reizbach hatte seinen Grimm noch immer nicht fahren lassen nnd trank still schweigend ein Glas Mosel nach dem anderen, bis der Regimentsadjutant erschien. Dann brach er los:

„Nun hören Sie mal, Grabowski, das ist doch ein Skandal! Stehe ich da oben auf der Geländewelle am Wald, kommt so ein Kerl nnd behauptet, wir seien auf Rosenhagener Beden! — Ich werde mich beschweren!”

„Tun Sie's nicht, Herr Hauptmann,” erwiderte der Adjutant, „Sie bekommen Unrecht! Der Fall ist ganz merkwürdig; bören Sie nur. Vorigen Herbst ist doch der alte Herr von Plessow auf Rosenhagen gestorben, und das Gut ist an eine entferntc Nichte gefallen. Das scheint nun ein sehr resolutes Frauenzimmer zu sein, die alle möglichen Neuerungen einführt. Unter anderem hat sie herausgeknobelt, daß die Grenze gegen unseren Exerzierplatz ganz anders liegt, als wir immer angenommen haben. Wir baben uns durch Einblick in die Pläne auf dem Landratsamte überzeugt, daß die bekannte Welle, auf der Sie heute morgen gestanden baben, in der Tat zum Gute gehört, und der Herr Oberst hat bereits angeordnet, daß wir in Zukunft nicht mehr fremden Boden betreten sollen. Der betreffende Befehl wird den Herren Batteriechefs heute Mittag zugehen!”

„Bomben-Element!” schrie Reizbach, „was ist denn das wicder für eine Geschichte?! Ihr vom Regimentsstab habt Euch von dem gerissenen Frauenzimmer lackieren lassen! Seit 1887 stehe ich hier in Garnison und habe immer den abziehenden Feind von da aus beschossen! Und wenn das Gelände wirklich mal zu des alten Fritzen Zeiten zu Rosenhagen gehörte, so ist das doch längst verjährt!”

„Nein, nein, Herr Hauptmann, auch so ist nichts zu machen; die neue Besitzerin hat aktenmäßig ihre zweifellose Berechtigung dargetan — alles selbst geschrieben und bis auf das letzte Jota verklausuliert!”

„Also ein Blaustrumpf!” erwiderte Reizbach, „ein weiblicher Dr. jur. wohl gar?! Nein, ich bin außer mir! Niemals habe ich etwas von der weiblichen Thronfolge gehalten, aber jetzt erkenne ich erst recht, wie vernünftig das salische Gesetz war, das die Frauenzimmer von der Sukzession nnd Herrschaft ausschloß. Hätte da nicht in Rosenhagen ein Vetter einziehen können, ein netter Kerl, der einen ordentlichen Mosel im Hause führt und unsere Jagden mitreitet? Aber nein — ein Frauenzimmer muß es sein, eine verschrobene alte Jungfer!”

Die Kameraden lachten über den Ingrimm Reizbachs, und schließlich ließ er sich besänftigen.

„Ich muß mich an den Gedanken erst gewöhnen,” sagte er, „daß sie uns den schönen Exerzierplatz beschneiden! Na, werde mich wohl bis zum nächsten Frühjahre darein finden, denn eher komm' ich nicht wieder hin. Morgen geh' ich auf Urlaub bis zum Manöver, nachher kommen die Rekruten, und im Handumdrehen ist Weihnachten heran. Bis dahin hat die Dame vielleicht eingesehen, daß sie moralisch im Unrecht ist, mag sie juristisch auch zwanzig Mal Recht haben,”

*           *           *

Hauptmann von Reizbach war ein großer Wasserfreund und ging deshalb in jedem Sommer nach Wilhclmsbad und Swinemünde. „Da hab ich alles,” sagte er, „wonach mein Herz verlangt: Wald und Feld, Düne und See, und bei aller Naturschönbeit doch Leben und Treiben. Der Hafen liegt ganz in der Nähe, und morgens schießt die Küstenartillerie nach Seezielen, was mir ungemein sympathisch ist.” Er konnte eben den Soldaten, und namentlich den Artilleristen, niemals verleugnen. An jedem Abend aber wandelte Reizbach auf der großen Ostmole von Swinemünde ganz hinaus bis an die äußerste Spitze, wo hinter einer Mauer eine kleine Treppe sich zum Wasser niedersenkt; dort faßte er Posto und bereicherte seine seemännischen Kenntnisse an den ein- und auslaufenden Schiffen.

So hatte er schon acht Tage im dolce far niente verbracht, als plötzlich ein Umschwung in seiner bis auf die Minute geregelten Lebensweise eintrat. Als er nämlich eines Abends an „seine” Treppe kam, fand er den Platz von einer jungcn Dame besetzt, und in den nächsten Tagen wiederholte sich das. Wütend stand Reizbach oben auf der Mauer und sah auf den fremden Usurpator hernieder, aber der rückte umd rührte sich nicht. So ging es eine ganze Woche lang.

Der Hauptmann überlegte, was zu tun sei. „Wenn der Feind eine Position besetzen will,” sagte er zu sich, „und ich will auch an den Fleck, so kommt es darauf an, rechtzeitig abzumarschieren und vor ihm da zu sein! Ich verde also morgen statt um 7, schon um 6 einen Spaziergang nach der Mole antreten.” — Diese strategische Maßnahme hatte denn auch einigen Erfolg: die Treppe war leer, und mit Spannung nahm Reizbach Platz, um die kommenden Dinge abzuwarten. Nach einiger Zeit erschien „der Feind”, eine hübsche junge Dame in schickem Matrosenkostüm; sie stutzte, als sie den Platz besetzt fand, überlegte einen Augenblick und kam dann die Treppe hinunter.

„Verzeihen Sie, mcin Herr, der Platz gehört mir!”

„Bedauere unendlich, mein Fräulein, die Mole ist kein Privateigentum!”

„Ich sitze seit acht Tagen stets von 7 bis 9 Uhr auf dieser Treppe und mache Studien!”

„Und ich habe hereits eine Woche vor Ihnen hier gesessen, bis Sie mich des Platzes beraubten!”

„Wir empfinden also beide eine besondere Neigung zu dieser Stelle!”

„So scheint es!”

„Wollen wir uns nicht einigen?”

„Ich bin einverstanden!”

„Vielleicht von 7 bis 8 Sie, mein Herr, von 8 bis 9 ich?”

„Oder auch, was ich für praktischer halte, wir beide von 7 bis 9; die Treppe ist breit genug!”

Die junge Dame warf einen prüfenden Blick auf das offene männliche Gesicht ihres Gegenübers, dann lachte sie: „Ein Kompromiß? Sei es darum!” Und mit reizender Ungezwungenheit stieg sie die letzten Stufen hinunter und setzte sich neben den Hauptmann, der sich ihr, als artiger Kavalier, vorstellte.

Am ersten Abend stockte die Unterhaltung noch ein wenig, am nächsten waren schon Anknüpfungspunkte gefunden, und nach vier, fünf Tagen plauderten die beiden, als ob sie alte Bekannte wären.

„Dieser Platz ist mir dreifach teuer,” sagte Reizbach eines Abends. „In erster Linie wegen unserer Bekanntschaft! Aber zweierlei kommt noch dazu: Einmal der Schiffsverkehr. Wir Soldaten kommen wenig 'raus: Immer Edelberg und Berlin, und im Sommer höchstens Thüringen oder Swinemünde. Und wenn ich hier die Schiffe sehe aus aller Herrgotts-Länder, dann ziehen meine Gedanken mit bis in die ferne Heimat der Dampfer und Segler oder in entlegene Geschichtsperioden. Sehen Sie z. B. der da 'rausgeht, der Dreimaster, der hat ein weißes Kreuz im roten Felde; das ist der Danebrog, die dänische Flagge. Und da denk' ich gleich an Kopenhagen und Thorwaldsen und Tivoli und an Chrstian IV. Das ist nämlich der, der den Schuß ins Auge bekam, als er, ein tapferer Soldat, auf seinem Admiralschiff — die „Dreifaltigkeit” hieß es — gegen die Schweden focht. Das war so vor 250 Jahren, und noch heute singen sie drüben: „König Christian stand am hohen Mast!” — Das ist das eine; nnd das andere, daß ich hinter mir die Swinemünder Küstenartillerie sehe. Muß ja ganz schön sein, als Brite die Welt zu beherrschen und überall auf der Erde Flottenstationen zu haben; oder als Pariser mitten in dem Trubel der Zivilisation zu leben: aber ich stehe am liebsten unter dem Schutze der Kanonen des Königs von Preußen. „Pro gloria et patria” ist auf jeder geschrieben, und das ist auch das richtige! Und dabei fällt mir etwas ein, was ich Ihnen erzählen will. Haben wir da in Edelberg einen Exerzierplatz, der an ein Gut stößt, Rosenhagen heißt es. Und auf dem Platze ist eine herrliche Stelle, wo man großartig exerzieren kann, dicht an einer Seite. Und nun kommt ein verrücktes altes Frauenzimmer, die kürzlich das Gut geerbt hat, und tüftelt heraus, daß die schöne Stelle zum Gut gehört und nicht zum Exerzierplatz, wiewohl wir seit 20 Jahren da oben galoppieren. Und reißt uns die Stelle weg nnd schmeißt die Soldaten runter! Ist das nicht ein Skandal ohne gleichen?”

„Wieso? Ich verstehe nicht recht,” erwiderte das junge Mädchen. „Wenn die Dame im Recht ist —?”

„Das ist es eben — im Recht! Was heißt im Recht? Es gibt verschiedenes Recht: Juristenrecht und Herzensrecht. Und sehen Sie, wenn die Dame ein preußisches Soldatenkind ist, — sie ist nämlich eine Plessow, und die sind alle Soldaten, und einer hat schon bei Fehrbellin zwei schwedische Standarten mit eigener Hand erobert und wurde drob vom Großen Kurfürsten auf beide Backen geküßt —, wie gesagt, als Plessowsche, da müßte sie sagen: die Rechtsgelehrten und Federfuchser haben zwar mit ihren Gesetzbüchern und Schwarten dargetan, daß das Stück da oben zu Rosenhagen gehört. Aber ich pfeife auf den Firlefanz. Und es fällt mir nicht ein, den Rock zu beschneiden, den mein Vater und Großvater getragen haben, und an dem auch ich hänge, den Rock des Königs. Die Edelbergor sollen da oben manövrieren, so viel sie wollen, ich erlaube es — das ist das Recht meines Herzens!”

Die Dame war plotzlich ganz still geworden und nickte nur mit dem Kopfe. —

Als Reizbach in der Frühe des nächsten Tages sein Hotel verließ, überreichte ihm der Kellner einen Brief, der durch einen Fischerjungen für ihn abgegeben worden war. Das Schreiben lautete:

Sehr geehrter Herr von Reizbach!

Wenn Sie heute gerad zu gewohnter Zeit die Molentreppe besuchen, werden Sie den Platz leer finden, Ihre Unbekannte ist verschwunden und läßt Sie im Genusse Ihrer älteren Rechte, jedoch nicht ohne Ihnen Dank zu sagen für die anregenden Plauderstunden. Und dann noch für etwas anderes. Dafür, daß Sie ihr den Ausweg aus einem Dilemma gefunden haben, das sie schon geraume Zeit bedrückt. Heimgekehrt nach Ihrem lieben Edelberg, werden Sie — hoffentlich mit Vergnügen — konstatieren können, daß Ihr Appell an die Tradition seine Wirkung nicht verfehlt hat, und daß die 7. Batterie in der alten, fortan nicht mehr umstrittenen Feuerstellung exerziert.
Mit freundlichen Grüßen
Hertha Freiin v. Plessow,
Rosenhagen.

*           *           *

Mit lautem Jubel wurdc der Hauptmann im Edelberger Kasino von den Kameraden empfangen, als er, etwa acht Tage später, wieder zu Tisch erschien.

„Da sind Sie ja! Was hören wir für Geschichten von Ihnen, Reizbach! Sie sollen ja beinahe eine Woche schon von der See zurück sein und haben sich hier noch gar nicht blickem lassen!”

„Die Sehnsucht nach dem Exerzierplatz hat ihn heimgetrieben,” neckte Oberleutnant Fahrenheidt, „Der Schmerz um die für ewig verlorene schöne Feuerstellung an der Rosenhagener Grenze!”

„Wer sagt Ihnen, Fahrenheidt, daß die Parzelle verloren ist?” entgegnete Reizbach. „Ich behaupte, wir alle werden im nächsten Frühjahr nach wie vor da oben exerzieren!”

„Niemals, niemals,” protestierte der andere. „Fragen Sie nur den Adjutanten, Herr Hauptmann, wie hartnäckig sich die Rosenhagerin gewehrt hat. Ich glaube an keine Nachgiebigkeit des Fräulein v. Plessow.”

„Aber ich!” lachte der Hauptmann.

„Ja wieso? Haben Sie mit ihr verhandelt?”

Doch der Hauptmann lächelte nur beglückt vor sich hin und war zu keiner Auskunft zu bewegen. „Laßt nur, Kinder,” sagte er, „ihr erfahrt es noch früh genug. Es soll eine Ueberraschung werden.”

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